Mit allen Sinnen erzählt: Die journalistischen Königsdisziplinen

Bewegend, ausdrucksstark, unmittelbar: Erzählerisch spüren die  Reportage und das Porträt das Leben in all seinen Facetten auf. Teilen Ereignisse und Erlebnisse, zeichnen Charaktere, legen Wesenszüge offen. Schälen einzigartige Momente frei, lebendig, nah und anschaulich – gebündelt wie unter einem Brennglas. Doch wie sind die Formate entstanden? Was hat sie geprägt? In dieser kleinen Abhandlung werfe ich einen Blick in die Historie der traditionsreichen journalistischen „Königsdisziplinen“ und zeichne ihre Werdegänge vom Altertum bis heute nach: in zehn Entwicklungsstufen bei der Reportage (hier tut sich etwa Herodot als „Ur-Reporter“ hervor) sowie deren vier beim Porträt, das sich erst später als eigenständiges Format etabliert und häufig als Spielart der Reportage betrachtet wird (was de facto nicht immer zutrifft). Dazu führen Links zu HTTPS-verschlüsselten Websites mit frei zugänglichen, die jeweilige Epoche widerspiegelnden Schriftzeugnissen, Reportagen, Porträts und weiterführenden Informationen.

Wegweiser und Weltenöffner

Viele kulturelle, gesellschaftliche, politische und mediale Einflüsse haben beide Erzähl-Formate geprägt. Ein Anspruch der Genres ist bis heute gleich geblieben: ihre Leserinnnen und Leser als Kundschafter in unbekanntes Terrain zu geleiten, sie in Stimmungen und Atmosphären eintauchen und hinter vordergründig blendende Kulissen schauen zu  lassen. Um neue Sichtweisen, Horizonte und Erkenntnisse entdecken und nachvollziehen zu können, was die Protagonisten antreibt, abgründig oder einnehmend erscheinen lässt, kurz: sie einmalig macht.

Porträt und Reportage – Mehrwert für Kopf und Bauch

Durch fremde Augen sehen, in anderen Schuhen laufen, einen schärferen Blick gewinnen für politische, gesellschaftliche oder ökonomische Missstände und gefährliche Machtstrukturen – lang Vertrautes hinterfragen und gewohnte Gedanken neu justieren: Hochwertige Porträts und Reportagen bieten neben dem Lesegenuss ein Füllhorn an Einblicken und Aha-Erlebnissen und setzen mit dem im Augenblick verhafteten Präsens als gebräuchliche Zeitform ein Plädoyer gegen das Vergessen. 

Genese und Güte – lang gereift

Durch ihre subjektiven Betrachtungen, Assoziationen und Empfindungen bereichern die Autorinnen und Autoren die Reportage und das Porträt um ihre entscheidenden, charaktergebenden Wesensmerkmale. Ein eigener Tonfall, eine persönliche Handschrift küren die Texte und verleihen ihnen Exklusivität. Wahrhaftig werden sie jedoch erst im Einklang mit der Einhaltung journalistischer Sorgfaltspflichten. Authentizität, Faktentreue und Glaubwürdigkeit sind unersetzbar. Ansonsten verlieren die journalistischen Königsdisziplinen nichts weniger als ihre Eigenständigkeit und Zielvorgabe: das Abbilden und Einordnen realer Begebenheiten.

Zeitreise in die Entstehungsgeschichte

Wozu ein Ausblenden handwerklicher Kriterien führen kann, legt der im Dezember 2018 publik gemachte Skandal um reihenweise  gefälschte Reportagen offen. Doch wie konnte es so weit kommen? Sind die Erzählformen gar historisch „vorbelastet“?

Grund genug, die vielschichtigen Genres in dieser kleinen Abhandlung genauer unter die Lupe zu nehmen. Ihre historischen Fundamente und Vorformen offen zu legen und Leseschätze als Zeugnisse der jeweiligen Epochen und Lebenswelten zu heben. Und um nach ihrem Studieren wieder zurückzukehren: mit einem besseren Verstehen – und frischer, vorurteilsfreier Faszination für die große, übergreifende Kunst des Erzählens und ihren schier endlosen Entfaltungsmöglichkeiten.

Ausgesuchte Lektüre-Tipps

Story: Der eigenen Familie fremd werden: 720.000 Alzheimer-Erkrankte werden von ihren Angehörigen gepflegt – eine Begleitung bis an die Grenzen der Kräfte.
Stilnote: „Als er die Wege nicht mehr fand, malten sie Skizzen, zum Zahnarzt, zur Reinigung, zum Optiker. Als er die Zettel falsch herum gehalten und sie ihn im Straßenverkehr gesucht hatte, heulend vor Angst, hängte sie ihm, dem ehemaligen Weltreisenden, Handelsvertreter für Spielwaren, einen Brustbeutel mit Adresse um“

Story: Alexander Osang über die Machtfrau Angela Merkel. In seinem preisgekrönten Porträt versucht er dem Geheimnis ihrer Durchsetzungskraft auf die Spur zu kommen. 
Stilnote:‚Ich habe noch nicht gekostet, aber ich habe mich sehr gefreut“, sagt sie zu dem Imker mit der Busfahrer-Frisur. Sie schlägt den Mantelkragen hoch und hüpft durch die Pfützen unter den nassen, schlaffen „CDU – mitten im Leben“-Fahnen zu ihrem Auto. Sie gibt einem oft das Gefühl, zurückgelassen zu werden. Sie nimmt das Leben mit.

Story: Sandra Schulz untersucht, was einen Großtierjäger antreibt, obwohl er Tiere liebt. Ausgezeichnet mit dem Axel-Springer-Preis für junge Journalisten 2005.
Stilnote: „Ein Mann steht immer mit dem Fernglas im Mastkorb, um die Tiere im Packeis zu suchen. Dunkle Klumpen auf weißen Schollen. Auf einer Eisscholle liegt Oskar.“

Story: Angst vor dem Sterben hatte er keine: Als Albert Einstein wegen eines schmerzhaften Gallenblasenleidens das Krankenhaus von Princetown aufsucht, ahnt er nicht, dass er nur noch drei Tage zu leben hat. Ein Nachruf auf das Universal-Genie. 
Stilnote: „Der Tod kam überraschend, nach einem Riß der Hauptschlagader und starkem Blutverlust. In der Montagnacht um 0:15 Uhr setzte das Herz aus. Albert Einstein, 76, der Mann, der es unternommen hatte, den Kosmos und seine Kräfte in vier kurze Formeln zu zwingen, und der den Menschen ein neues Weltbild und ein neues Zeitalter beschert hatte, war tot.“

Schluss-Worte

Charles Baudelaire (1855)

 

A portrait!
What could be more simple
and more complex,
more obvious and
more profound?

Charles Baudelaire

-
1821 - 1867
W. Somerset Maugham



Der Historiker ist ein Reporter, der überall dort nicht dabei war, wo etwas passiert ist.

 

William Somerset Maugham

-
1874-1965
Rudolf Augstein (1980)


Naturgemäß kann eine Reportage nur subjektiv sein. Nur der Reporter hat gesehen und gehört, was er beschreibt.


Rudolf Augstein

-
1923 - 2002