Reisebericht im Aufbruch: Mehr Realismus!
In Abgrenzung zum rein literarischen Reisebericht entbrennt gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine Debatte um mehr Realitätseinzug. Dabei hatte bereits im Jahre 1704 ein Engländer in Sachen sachliche Berichterstattung für Furore gesorgt: In seinem Werk „The Storm“ hält Daniel Defoe ein ungewöhnlich heftiges Unwetter über England im Stile eines reportierenden Journalisten fest, ein Meisterstück der frühen Reportage. Neben der präzisen Schilderung des Naturereignisses gibt Defoe eine genaue Bezifferung der Schäden an und lässt Augenzeugen zu Wort kommen.
Literarischer Journalismus erreicht Deutschland
Auf deutscher Seite setzt – mit beinahe hundertjähriger Verzögerung – Johann Gottfried Seume als glühender Verfechter seröser Berichterstattung mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit neue Maßstäbe: „Spaziergang nach Syrakus“ lautet der Titel seines 1802 publizierten Reisetagebuchs, ein Bestseller und ein Plädoyer für eine handwerklich, sachlich-seriöse und auf Quellenangaben beruhende Arbeitsweise des Reporters. Auf die Lebenswelten in Italien blickt der Autor indes mit wachen, sozialkritischen Augen, die Wirklichkeit will er einfangen.
Weniger populär, aber ebenso exakt beobachtend und auf dem Boden der Sachlichkeit stehend, geht Johann Georg Forster in seinen bereits 1791 veröffentlichten „Ansichten vom Niederrhein“ zu Werke (Reisebegleitung hat er in keinem geringeren als im jungen Alexander von Humboldt gefunden!).
Die etwas später formulierten Anforderungen seines Zeitgenossen Seume an eine (Reise-)Reportage lesen sich wie eine über die Zeit erhabene, allgemeingültige Rezeptur des Genres:
Dokumentation (= Angaben zu Orten, Zeiten, Personen etc.), Authentizität (= persönlicher Augenschein), Glaubwürdigkeit (= Überprüfbarkeit), Unmittelbarkeit (= sinnliche, konkrete Beobachtung) und Redlichkeit (= das Thema wichtiger nehmen als sich selbst und andere Interessen).
Fortan zieht der neue, sich dem Realismus zuwendende literarische Journalismus größere Kreise und entfaltet sich in der allmählich anwachsenden Presselandschaft in vielerlei Weise: vom anschaulich verfassten Reisebericht über die szenische Erzählung bis zum Tatsachenroman. Stilbildend sind etwa Heinrich Heines „Harzreise“ (1824) und „Old Bailey“ (1831/Hierbei handelt es sich allerdings um eine Gerichtsreportage, die in Bauform und Stilmittel bereits der „modernen“ Reportage ähnelt!), Adelbert von Chamissos „Reise um die Welt“ (1836), Balduin Möllhausens „Reisen in die Felsengebirge Nordamerikas“ (1861), Julius Rodenbergs „Tag und Nacht in London“ (1862) sowie Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (1862-1889).
Kostproben im Wortlaut
„In Romanen hat man uns nun lange genug alte, nicht mehr geleugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausend Mal wiederholt. Ich tadle dieses nicht; es ist der Anfang: aber immer nur Milchspeise für Kinder. Wir sollten doch endlich auch Männer werden, und beginnen, die Sachen ernsthaft geschichtsmäßig zu nehmen, ohne Vorurteil und Groll, ohne Leidenschaft und Selbstsucht. Örter, Personen, Namen, Umstände sollten immer bei den Tatsachen als Belege sein, damit alles so viel als möglich aktenmäßig würde.“
(aus dem Vorwort zu „Spaziergang nach Syrakus“, J. G. Seume)
„Hinter Northeim wird es schon gebirgig und hier und da treten schöne Anhöhen hervor. Auf dem Wege traf ich meistens Krämer, die nach der Braunschweiger Messe zogen, auch einen Schwarm Frauenzimmer, deren jede ein großes, fast häuserhohes, mit weißem Leinen überzogenes Behältnis auf dem Rücken trug. Darin saßen allerlei eingegangene Singvögel, die beständig piepsten und zwitscherten, während ihre Trägerinnen lustig dahinhüpften und schwatzten.“
(aus „Harzreise“, H. Heine)
„Wir wollen nur sagen, daß Regent-Street die amüsanteste Straße von London ist – mit ihren weiten Schwingungen und Halbbögen, mit ihren majestätischen Fronten, gebrochen hier und da von geschmackvollen Säulenstellungen , die mit ihrer grandiosen Einförmigkeit von Haus an Haus, und ihrer bunten Mannigfaltigkeit von Schaufenster an Schaufenster – immer wechselnd, von Früh bis Spät, in ihren Erscheinungen, …“
(aus „Tag und Nacht in London“, J. Rodenberg)
Nachlesen im Netz
Weitere Netzquellen
- < „Kein harmloses Reisebuch“ > über Forsters „Ansichten vom Niederrhein“ (Quelle: deutschlandfunk.de)
Schluss-Worte
Du kannst nur denken durch den Mittler Sprache, nur mit dem Sinne schauen die Natur.
A. v. Chamisso
-1781-1831
Große Natureindrücke müssen unsere Seele erweitern, ehe wir den ganzen großen Menschen fassen können.
H. Heine
-(1797-1856)
Wer in der Mark reisen will, muss zunächst Liebe zu „Land und Leuten“ mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit.