Presseboom: "Moderne" Reportage profitiert

Presseboom: "Moderne" Reportage profitiert

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts blüht infolge der immer stärker sich ausbreitenden Industrialisierung auch die Massenpresse auf. Allein von 1850-80 werden rund 3.000 neue Titel an Wochenblättern und Zeitschriften auf den deutschsprachigen Markt geworfen. Mit dieser Entwicklung setzt sich die „moderne“ Reportage immer stärker durch, in ihr fließen beide Traditionen zusammen: der literarische Reisebericht (auch: schildernder Erlebnisbericht) und der faktizierend-nachrichtliche, überprüfbare Augenzeugenbericht.

Kompass und Aufklärung in unübersichtlichen Zeiten

Fremde Länder und Kulturen nahebringen, exklusive Erlebnisse teilen, hintergründig-verborgenes Geschehen aufdecken, Unbekanntes und Verschlossenes zugänglich machen: Die moderne Reportage greift die Bedürfnisse der an Aufklärung und Unterhaltung interessierten Bevölkerung auf und agiert, befördert durch den enormen Anstieg der Pressekonkurrenz, nah am Puls der Zeit. In einer Phase gesellschaftlich-sozialer Spaltungen, wachsender politischer Spannungen und parteilich-ideologisch gefärbter Zeitungsmeldungen sehnen sich viele nach glaubwürdigen und Orientierung liefernden Hintergrundberichten und ereignisreichen, sprachkräftigen und durch eine subjektive Herangehensweise gekennzeichneten Reportagen.

Vor allem englischsprachige und französische Autoren, aber auch deutsche Vertreter bahnen der modernen Reportage den Weg: Ludwig Börnes „Briefe aus Paris“ (1830), Heinrich Heines Pariser „Tagesberichte“ als Korrespondent für die Augsburger Allgemeine Zeitung über den Aufstand gegen das Regime des Bürgerkönigs Louis Philippe  (1832), Charles Dickens „Londoner Skizzen“ (1838), Georg Weerths „Besuch in den Tuilerien“ (1848), Theodor Fontanes Schilderungen aus London, zum Beispiel „Ein Sommer in London“ (1854), Emile Zolas „Der Bauch von Paris“ (1873) sowie Mark Twains „Leben auf dem Mississippi“ (1883).

Erzählweise – sachlich nüchtern bis naturalistisch

Im allmählich auslaufenden 19. Jahrhundert spielt sich stilistisch die
sachliche, rationale, präzise Darstellung weiter in den Vordergrund,
entsprechend der immer ausgefeilteren, rasanten technischen Fortschritte
und dem verbreiteten Glauben an die „objektiven“ Erkenntnisse der
Naturwissenschaften. Ein Wegbegründer der daraus
entspringenden „naturalistischen“ Erzählweise ist Emile Zola. Diese Form fasst in Deutschland allerdings weniger Fuß als in England, den USA, Russland und Frankreich.

Sozialreportage: Missstände unterm Brennglas

Mit seinem konzentrierten Blick für alltagsnahes gesellschaftliches Geschehen profiliert sich Zola zudem als Vertreter einer neu aufkommenden Spielart der reportierenden Berichterstattung: der Sozialreportage. Augen und Bewusstsein soll sie öffnen für extreme Arbeits- und Lebensbedingungen, soziale Distanzen und institutionelle Barrieren überwinden in einer sich zunehmend komplexer gestaltenden Welt. Auch mit Hilfe von Undercover-Recherchen, bei der die Reporter aus ihrer Rolle des Beobachters aussteigen und inkognito für eine Weile das Leben mit den Personen teilen, über die sie schreiben, um Missstände offenzulegen. Als mutige Pinonierin auf diesem Gebiet gilt die US-Amerikanerin Nellie Bly, die im Jahre 1887 mit ihrer in Joseph Pulitzers New York World veröffentlichten Reportage „Zehn Tage im Irrenhaus“ mächtiges Aufsehen erregt. Undercover hatte sie sich zuvor in eine New Yorker Nervenheilanstalt eingeschleust. Ihre exklusiven Einsichtnahmen erweisen sich als bahnbrechend und vorbildhaft für das Mittel des journalistischen Rollenspiels, das sich recht bald auch jenseits des Atlantiks etablieren wird.

Kostproben im Wortlaut

„So verläuft das Leben der alten Dame, nur daß sie alljährlich einen kleinen Ausflug an die Seeküste macht und dort einige Zeit ein stilles Häuschen bewohnt. Ihr Leben ist schon viele Jahre so hingegangen, und sein Lauf muß bald das Ende erreichen, dem sie mit furchtloser Ruhe entgegensieht. Sie hat alles zu hoffen und nichts zu fürchten.“

(aus „Londoner Skizzen“ von C. Dickens)

„Der Zauber Londons ist – seine Massenhaftigkeit. Wenn Neapel durch seinen Golf und Himmel, Moskau durch seine funkelnden Kuppeln, Rom durch seine Erinnerungen, Venedig durch den Zauber seiner meerentstiegenen Schönheit wirkt, so ist es beim Anblick Londons das Gefühl des Unendlichen, was uns überwältigt …“

(aus: „Ein Sommer in London“ von T. Fontane)

„Inmitten der tiefen Stille zogen durch die menschenleere, ansteigende Allee die Karren der Gemüsegärtner nach Paris mit dem gleichmäßigen Kreischen ihrer Räder, dessen Widerhall an die Mauern der Häuser schlug, die zu beiden Seiten der Straße hinter den verschwommenen Linien der Ulmen in nächtlicher Ruhe dalagen. An der Brücke von Neuilly waren ein Karren Kohl und ein Karren Bohnen zu den acht Karren weißer und gelber Rüben gestoßen, die von Nanterre kamen; die Pferde gingen allein gesenkten Kopfes mit ihrem ausdauernden, trägen Schritt, den der ansteigende Weg noch verlangsamte.“

(aus „Der Bauch von Paris“ von E. Zola)

„Von dem Moment an, als ich die Station für Geisteskranke auf der Insel betrat, machte ich keinen Versuch mehr, meine Rolle der Geisteskranken weiter aufrechtzuerhalten. Ich redete und verhielt mich genau so, wie ich es auch sonst im Alltag tue. Und doch, so merkwürdig es klingt: Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich …“

aus „Zehn Tage im Irrenhaus“ (1887) von Nellie Bly

Nachlesen im Netz

Weitere Netzquellen

Schluss-Worte

Ludwig Börne, Porträt (1827)


Die Aussagen der Zeit zu erlauschen, ihr Mienenspiel zu deuten und beides niederzuschreiben, wäre ein ehrenvoller Dienst, selbst wenn er gefährlich wäre.

L. Börne

-
(1786 - 1837)
Emile Zola

 

Ich glaube nicht, dass der Gedanke etwas anderes ist als eine Funktion der Materia.

E. Zola

-
(1840 - 1902)
Theodor Fontane Porträt (um 1860)

 

Realismus ist die künstlerische Wiedergabe (nicht das bloße Abschreiben) des Lebens. Also Echtheit, Wahrheit.

T. Fontane

-
(1819-1891)