Von Alltags-Dokumentationen zur Parteinahme
An der Wende zum 20. Jahrhundert breitet sich die Sozialreportage im deutschsprachigen Raum zunehmend aus und bedient sich dabei auch des Rollenspiels. Als entscheidender Wegbereiter der verdeckten Recherche entpuppt sich der Wiener Journalist Max Winter. In seiner Undercover-Reportage „Ein Tag Lagerhausarbeiter! Die Klagen und Plagen der Quaiarbeiter“ (1900) offenbart er Einblicke in harten Alltag der Beschäftigten und plädiert für bessere Arbeitsbedingungen und die Aufnahme in die städtische Krankenkasse. Für ein anderes Projekt, eine Serie für die Arbeiter-Zeitung, berichtet Winter über soziale Brennpunkte in der Stadt und lässt sich – als Landstreicher verkleidet – in ein Polizeigefängnis sperren.
Offenlegen der gesellschaftliche Schere
Fortan gewinnt die Sozialreportage immer stärker an Bedeutung und Einfluss. Als scharfe Beobachterin und Vertreterin des „Proletariats“ bringt die Journalistin Larissa Reissner in den zwanziger Jahren in ihren Reportagen viele gesellschaftlich-soziale Miseren ans Tageslicht, macht beispielsweise „Im Lager der Armut“ von 1924 auf das bittere Los von Prostituierten aufmerksam – und wirft zwei Jahre später einen kritischen Blick in die Produktionsstuben des profitgetriebenen Pressekonzerns „Ullstein“.
Egon Erwin Kisch: Von der Sachlichkeit zur Kunst- und Kampfform
Zeitgleich avanciert ein weiterer Reporter zum Sprachrohr der Ausgebeuteten – und wird alsbald selbst zum Star und Vorbild für zahlreiche nacheifernde Berichterstatter aufsteigen: Egon Erwin Kisch. Seine 1925 erscheinende Sammlung „Der rasende Reporter“ vereint Alltags-Reportagen aus aller Welt mit einer enormen thematischen Bandbreite an detailreichen, tiefenscharf beobachteten Erlebnissen – und entwickelt sich umgehend zum Bestseller. Zeit seines Lebens engagiert er sich politisch auf Seiten der Sozialisten; dennnoch bleibt er in seinen im literarischen Erzählstil verfassten Reportagen zunächst – ganz nach Emile Zola – dem Naturalismus treu, der sachlichen Darstellung, eines fotografisch genauen Realismus, verpflichtet, und prägt den aus diesem Zusammenspiel hervorgehenden Begriff der „Neuen Sachlichkeit“.
Reportage als „Kunst- und Kampfform“
Ende der zwanziger Jahre ändert Kisch seine Auffassung: Angesichts des großflächig um sich greifenden Faschismus habe der Reporter fortan als politisch agitierender Akteur den Standpunkt eines Vertreters der Arbeiterklasse einzunehmen. Und reiht sich mit seiner Proklamation der Reportage als „Kunstform und Kampfform“, die prekäre Lebensverhältnisse schonungslos offenlegt und beschreibt, ein in die einsetzende neuerliche Realismus-Diskussion. Die ihrerseits auch Ausdruck ist einer vom immer höheren Produktionstempo, Auflagendruck und Werben um Aufmerksamkeit getriebenen Presse.
Grelle Schlagzeilen gegen Tatsachenbezug
Viele Blattmacher erliegen dem Griff zu massentauglich-boulevardesken Gestaltungsmitteln wie marktschreierische Überschriften und einer gefühlsgeladenen, leicht zugänglichen und rasch konsumierbaren Textsprache, häufig auf Kosten der Wahrheit. Nicht ohne Grund schimpft der renommierte Publizist und Medienkritier Karl Kraus den zeitgenössischen Reporter einen „Kehrichtsammler der Tatsachenwelt“. Im Gegensatz dazu verbleibt Kisch bei aller Parteinahme für die Gebeutelten bei seiner ihm eigenen betont sachlichen, jedoch ungeheuer anschaulichen, vor Details, Assoziationen und Metaphern sprühenden literarischen Erzählweise, die ein überaus großes Lesepublikum findet.
Kostproben im Wortlaut
„Ein Wachmann erscheint auf der Bildfläche. Ihn beschließe ich für meine Zwecke zu gebrauchen, und es gelingt mir vollkommen. Er rathet mir, mich an „Herrn Wobitz“ zu wenden. Ich trete abseits und lerne den Namen Wobitz auswendig. Wobitz, Wobitz, Wobitz … so lange, bis er mir geläufig wird, dann gehe auch ich hinein und menge mich in den Haufen der Arbeiter.“
aus „Ein Tag Lagerhausarbeiter“ von Max Winter
„Sechs Tage und sechs Nächte drücken dreizehn Paar Beine auf die Pedale, das rechte Bein auf das rechte Pedal, das linke Bein auf das linke Pedal, sind dreizehn Rücken abwärts gebogen, während der Kopf ununterbrochen nickt, einmal nach rechts, einmal nach links, je nachdem, welcher Fuß gerade tritt, und dreizehn Paar Hände tun nichts als die Lenkstange halten.“
aus „Und dann brüllt das Publikum ‚Hipp, Hipp!'“ von Egon Erwin Kisch
„Lang und hager, im kaffeebraunen Jackett, mit einer Medaille an der Uhrkette, pflegt er, auf Krücken gestützt, seiner Frau entgegenzugehen, die trotz ihrer grauen Haare, in der Tabakfabrik arbeitet. Die ganze Vorstadt kennt seine Minna, – ein solches Gesicht gibt es zum zweiten Male nicht wieder. Eine weiße Maske von einer solchen Schönheit, daß man vor ihr niederknien möchte. Nach der Arbeit leuchtet dieses Gesicht mit den kleinen Schweißtropfen an der Stirn wie weißer Gips.“
aus „Im Lager der Armut“ von Larissa Reissner
„Niemand holt sie vom Telegraphenamt: die Nachrichten kommen von selbst. Gleich wilden Schwalben schießen sie in den Raum des Redakteurs und fallen fix und fertig, schon in die menschliche Sprache übersetzt, auf schmalen Papierstreifen auf den Tisch. Zehn Apparate empfangen sie ununterbrochen. Ein dunkles Kloster mit hundert Zellen. Hundert Telephonzellen. In jeder Zelle sitzt ein Einsiedler, der den Gott der Sensationen mit wilder Stimme um Gaben anruft.“
aus „Ullstein“ von Larissa Reissner
Nachlesen im Netz
Außerdem: Diverse Reportagen von Egon Erwin Kisch zum Nachlesen (Quelle: projekt-gutenberg.org)
Weitere Netzquellen
- > „Bei den Verrückten“ (1925) > Essay von Kurt Tucholsky über den Reporter Albert Londres (Quelle: ngiyaw-ebooks.org)
- > „Max Winter – zu seinem 60. Geburtstag“ (1930) > Arbeiter Zeitung (Quelle: anno.onb.ac.at)
- > „Die Reportahsche“ (1931) > von Kurt Tucholsky alias Peter Panter in „Die Weltbühne“ vom 27.01.1931, Nr. 4 (Quelle: textlog.de)
- > „Reportage und Provokation“ (2015) > von Gerhard Strejcek über Egon Erwin Kisch als Begründer der Reportage als literarische Kunstform und des Aufdeckerjournalismus, Wiener Zeitung, 26.07.2015 (Quelle: austria-forum.org)
- > „Sadismus unter Palmen“ (2020) > von Hubert Spiegel über den legendären Reporter Albert Londres und seine Reportagen über den Kolonialismus in Afrika (Quelle: faz.net)
Schluss-Worte
Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer. Er hat Talent, was gleichgültig ist, und er hat Witterung, Energie, Menschenkenntnis und Findigkeit, die unerlässlich sind.
Kurt Tucholsky über Egon Erwin Kisch
-("Kritiken und Rezensionen", 1925)
Er mag übertreiben, unverlässliche Nachrichten bringen – dennoch ist er immer von der Tatsache abhängig, von der Sachlichkeit, immer ist ein Patrouillengang, ein Weg, ein Gespräch oder Anruf die Grundlage selbst der kleinsten Notiz.
Egon Erwin Kisch
(aus "Wesen eines Reporters", 1918)
Jeder (Publizist) kann sein Bestes leisten, wenn er von einem eherlichen Willen zur Sachlichkeit und zur Wahrheit beseelt ist und geleitet ist vom sozialen Gefühl, von der Absicht, den Unterdrückten und Entrechteten durch seine ungeschminkte Zeugenaussage zu nützen und zu helfen.