Günter Wallraff
Illustration Stahlwerk

Neue alte Wege - aufdeckend und literarisch

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hält der faktenorientierte angelsächsische Nachrichtenjournalismus beim Wiederaufbau der westdeutschen Presse Einzug. Fortan gehen Nachricht und Meinung getrennte Wege. Kommentierende Texte und Glossen landen in separaten Rubriken, subjektiv geprägte Formate führen – wenn überhaupt – ein Nischendasein. Nur langsam wächst die Einsicht, dass abstrakte, faktisch und objektiv orientierte Berichterstattung nicht ausreicht, um reales Geschehen abzubilden. Inmitten dieser von allseitigem Neuaufbruch geprägten Jahre wächst eine junge, angepasstes Obrigkeitsdenken ablehnende Generation heran, die sich je und je in einer bundesweit agierenden antiautoritären Protestbewegung formiert und die 68er Studentenrevolte heraufbeschwört –  eine gewaltige, nach Freiheit und Frieden,  individuellem Ausdruck und alternativen Lebensmodellen sich verzehrende und gegen das Establishment erhebende Bewegung.

Die Wiederentdeckung der erzählenden Reportage

Es nimmt wenig Wunder, dass in dieser Phase heftiger gesellschaftlicher Erosionen auch die Lust an journalistischen, Fakten und subjektive Beobachtungen einbeziehenden Erzählformaten neu aufflammt. Reise- und Augenzeugenberichte finden ihre Leser ebenso wie Sozialreportagen, die den Alltag einer neu sich findenden und ordnenden Bevölkerung kritisch ins Visier nehmen. Einer schaut ganz genau hin, mithilfe von Undercover-Recherchen und deckt widrige Arbeitsbedingungen, Menschenrechtsverletzungen und Ausländerfeindlichkeit auf: Günter Wallraff, investigativer Journalist. Wie auch Kai Hermann, ein weiterer Meister der Sozialreportage. Dazu knüpft an der Schwelle der 1970er Jahre eine Riege deutschsprachiger Autoren
an die alt-ehrwürdige Tradition literarisch geprägten Reportierens an und läutet damit – so ordnen es nicht wenige ein – entgültig die Renaissance der Reportage ein.

Fiktion und Fakten: Der New Journalism

Auf der anderen Seite des großen Teichs schlägt Anfang der 1960er Jahre die Stunde des New Journalism, gleichsam literarisch ambitioniert, jedoch häufig in Romanform gegossen, dabei um „objective reporting“ bemüht und mit dem Hauptaugenmerk auf gesellschaftlich-soziale Umwälzungen. Anlässe gibt es genug: die Ermordung John F. Kennedys, Martin Luther Kings Festnahme, der auf seinem Höhepunkt wütende Vietnam-Krieg, dazu die einsetzende, nach Freiheit und Selbstverwirklichung schreiende Hippie-Bewegung. Ein Grundsteinleger des New Journalism als „lebendiges“ Pendant zur betont objektiv-sachlich gehaltenen, faktenlastigen Berichterstattung ist Tom Wolfe, große Namen wie Truman Capote und Norman Mailer reihen sich ein. Dramaturgisch gewürzte, mitunter mit fingierten Charakteren ausgestattete Handlungsabläufe, ungekürzte Zitate, detailliert beschriebene Protagonisten und wechselnde Perspektiven auf das Geschehen kennzeichnen jene Spielart des literarisierten Erzähljournalismus. 

Eine Gegenströmung zum New Journalism bleibt indes nicht aus. In Sorge um nachlassende Fakten- und zunehmende Fiktions-Anteile sprechen sich ihre Vertreter für eine Rückkehr zu einer sachlich richtigen, originären Darstellung („Nonfiction“) aus. Erst in den neunziger Jahren schließlich grenzen renommierte Reporter um Norman Sims und Mark Kramer die Definition des Literary Journalism neu ab: als eine umfängliche, szenisch entwickelte journalistische Erzählung, beruhend auf intensiven, umfassenden Recherchen und Beobachtungen am Ort des Geschehens, oft ergänzt durch eine Begleitung der Protagonisten – sowie deren Offenlegung von Beweggründen und Motiven. Der Erzähler agiert aus einer subjektiven Sichtweise heraus und „geleitet“ den Leser bis zu seinem Erzählziel.

Im deutschsprachigen Raum hingegen drohen – beeinflusst durch den New Journalism – mit dem Anbrechen des letzten Jahrzehnts die fiktiven Anteile der literarischen Reportage aus dem Ruder zu laufen …

Kostproben im Wortlaut

“ … he continued to drink quietly and he seemed miles away in his private world, not even reacting when suddenly the stereo in the other room switched to a Sinatra song, „In the Wee Small Hours of the Morning.“ It is a lovely ballad that he first recorded ten years ago, and it now inspired many young couples who had been sitting, tired of twisting, to get up and move slowly around the dance floor, holding one another very close.“

aus „Frank Sinatra had a cold“ von Gay Talese

„Ich werde auf eine geschlossene Abteilung gebracht. Ein Pfleger nimmt mir Anzug, Hemd und Schuhe ab, damit ich „nachts nicht ausrücke“. – Auch mein Geld muß ich gegen Quittung abliefern. Es ist 22.00 Uhr. Ich liege auf einem Eisenrohrbett, wie ich es von Krankenhäusern her kenne: die Umrisse des Saales im Halbdunkel. In dem etwa 7 mal 15m großen Raum stehen 30 Betten. Neben mir richtet sich ein älterer Mann im Bett auf und starrt mich an.“

aus „Auf nach Goddelau“ von Günter Wallraff

„Wenn Sofie Häusler sich ein bißchen stabil getrunken hat; wenn sie vom kreisenden Fusel der Kumpane wie durch eine Nährlösung wieder auf die Beine gestellt ist, reicht eine Mark, um ihre Existenz als Wermut-Trinkerin absehbar zu sichern. Ihre Gemütslage gründet dann auf Zuversicht. Auf die neue Flasche, in der nach jedem Zug der Sprit zurückschwappt bis zum nächsten Zug, ist Verlaß. Meistens dauert es zwei Stunden, bis nichts mehr nachfließt.“

aus „Alltag einer Trinkerin“ von Marie-Luise Scherer

Nachlesen im Netz

Weitere Netzquellen

Schluss-Worte

Gay Talese

 

Sometimes it’s good to be an outsider, especially as a journalist.

Gay Talese

(*1932 / im Interview mit David L. Ulin, Los Angeles Times, 15.10.2010)
Günter Wallraff


Ich bewahre mir eine gewisse Naivität und tue so, als könnte alles ganz anders sein. Das heißt, ich finde mich mit dem Vorgegebenen nicht ab.

Günter Wallraff

(*1942 / aus "Die besten Träume sind die, in denen ich fliege", SZ Magazin 06.12.2015)