Im Kreuzfeuer der Kritik: Alles auf Anfang
Als der „Spiegel“ im Dezember 2018 den Skandal um gut sechzig gefälschte Reportagen seines hochgerühmten Autors Claas Relotius öffentlich macht, geht ein Aufschrei durch die Medien- und Leserlandschaft. Fingierte Fakten, Protagonisten, Interviews und Handlungsstränge! Empörung und Schrecken reichen sich die Hände. Generalverdächtigungen werden ausgesprochen und Erinnerungen wach, etwa an die erfundenen Interviews von Tom Kummer, an die Affäre um die angeblichen Hitler-Tagebücher, an Michael Borns gefälschte TV-Dokus. Doch dieses Mal scheinen der Umfang der vollzogenen Täuschungen und das methodische Vorgehen bespiellos – und setzen eine Zäsur für den gesamten Journalismus.
Fahrlässig heraufbeschworener Fake-Skandal
Dabei deckt der Skandal – wenn auch nicht mit der pathologisch anmutenden Fälschungs- und Erfindungswucht vergleichbar – auch großflächig unter den Teppich gekehrte Arbeitsmethoden der Branche und über viele Jahre eingeschlichene Nachlässigkeiten vonseiten der verantwortlichen Redaktionen auf. Weshalb sollten einzelne Autorinnen und Autoren, denen es an seriösem Arbeitsethos und Respekt vor dem Traditions-Genre mangelt, das nicht ausnutzen? Mit Blick auf Relotius‘ Reportagen stellt sich rasch heraus, dass die „Spiegel“-Redaktion zahlreiche ihrer bereits im Jahre 1949 im grundgesetzlichen „Spiegel-Status“ aufgestellten verpflichtenden journalistischen Standards wiederholt grob missachtet hatte. Vielleicht auch, um eine in breiten Teilen der Gesellschaft angelegte, nach Sensation und Perfektion strebende Erwartungshaltung, nicht enttäuschen zu wollen?
Neuer Katalog festigt alte Leitlinien
Ein gutes Jahr vergeht nach dem landauf, landab große Kreise ziehenden Knall, dann legen in Abstimmung mit der Chefredaktion fünfzig Spiegel-JournalistInnen die Leitlinien in einem 74-seitigem Booklet neu auf – mit verbindlichen Handlungsanweisungen für alle MitarbeiterInnen der Spiegel-Redaktion. Dazu darf die Fakten überprüfende Dokumentationsabteilung künftig Beiträge nach dem Zufallsprinzip für eine erneute Untersuchung einsehen.
In der Präambel pochen die Verfasser auf eine „zeitgemäße Rückbesinnung auf die Grundsätze, nach denen die SPIEGEL-Redaktion arbeitet. In einer Zeit, in der die Wahrhaftgkeit der Medien in Zweifel gezogen wird, ist das wichtig, um den Qualitätsjournalismus zu verteidigen.“ Eine Geschichte müsse stimmen, was neben einer Überprüfung von Fakten, Personen und Orten auch einbeziehe, „dass der Text in seiner Dramaturgie und seinem Ablauf die Wirklichkeit wiedergibt“. Und dann ein wichtiger Nachsatz, der die zuletzt entgrenzte Form der Reportage vice versa zu führen sucht: „Fakten schlagen die vermeintlich literarische Qualität.“
Aufbruch in eine neue Ära
Nicht nur der Spiegel, eine ganze in Misskredit gebrachte Branche gelobt schärfere Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Reportage. Verlust an Vertrauen wiegt schwer und bedarf einer umfassenden, schonungslosen Aufarbeitung. Nur langsam findet sich das Format wieder. Anordnungen zu mehr Transparenz wie die Offenlegung von Quellen und Belegen, Rechercheprotokolle und die Vermittlung eines Making-of sind Schritte in die richtige Richtung. Doch dürfen die Maßnahmen nicht einem Kontrollwahn zum Opfer fallen, sich nicht im Sezieren einzelner Wörter und Ausdrücke verlieren. Eine Reportage ist nicht bis ins Letzte überprüfbar. Ausschließliche Objektivität findet sich auf Erden nicht.
Rezeptur eines Zaubers
Erreicht werden muss ein gesunder Kompromiss zwischen Reportervertrauen und Faktencheck. Ansonsten verlöre die Reportage nichts weniger als ihre erzählende Identität und damit ihren Zauber, der aus der geheimnisvollen Melange einer möglichst objektiven Wiedergabe von realem Geschehen und den individuellen, persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, Bewertungen und Einordnungen, Empfindungen und Assoziationen der Autorinnen und Autoren entspringt.
Nachlesen im Netz
Weitere Fälschungsfälle
Schluss-Worte
Bei solchen perfekten Geschichten müsste die Redaktion oder die Ressortleiter fragen: Kann das wirklich sein? Stattdessen haben sie gesagt: Ist das geil! Und wir wollen das glauben, weil es so perfekt ist.
Stefan Niggemeier
(*1969 / über den Fall Relotius in 'Eine Stunde Was mit Medien', Deutschlandfunk Nova, 20.12.2018)
Dass die Geschichten ganz erfunden sein könnten, darauf wäre auch ich im Traum nicht gekommen. Aber wenn man die Geschichte eines Menschen rekonstruiert und schreibt, wie er geschnauft hat oder wie schnell sein Atem war oder in welcher Geschwindigkeit er durch irgendeine Straße läuft oder welches Lied er dabei anstimmt oder gar, was er sich in einer bestimmten Situation denkt, dann müsste doch instinktiv Skepsis aufkommen.