
Götterdämmerung: Die entgleiste Reportage
Mauerfall, Wiedervereinigung, Fußball-Weltmeister: An der Wende zum letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts scheint in Deutschland alles möglich zu sein. Der Mensch tritt ein in eine vermeintlich unbeschränkte Zukunft. Neonfarben, laut, rasant, überdreht, schrill. Leben auf der Überholspur. Konsumrausch. Markenklamotte. Körperkult. Techno-Party. Ein unendlicher Spaß! Zahlreiche Autoren, Redakteure und Verlage springen auf die massenkompatible Popkultur auf, lassen sich vom New Journalism ködern, addieren beide Einflüsse und proklamieren den Popjournalismus. Selbstbespiegelnd, hedonistisch, obsessiv und grell berichten und fabulieren viele Verfasser der Reportage über ihr Lifestyle-Milieu, eigene Standpunkte und Befindlichkeiten – und scheren damit aus dem sachlich-objektiven und detailgenauen Reportieren aus. So lässt sich etwa Christian Kracht 1990 über den Wahlkämpfer Rudolf Scharping aus, ohne den Politiker je getroffen zu haben.
Konstruierte Wirklichkeiten
Informationen auf ihren Gehalt hin prüfen, aus erster Hand beobachtete Vorgänge treffend abbilden und kritisch einordnen: Wiederholt werden die einstigen „Naturgesetzte“ der Reportage untergraben. Anstelle des Bestrebens nach Wiedergabe der mittels unserer fünf Sinne erfassten objektiven Wirklichkeit dominiert die schwarz-weiß konstruierte, häufig vorab komponierte, sensationsheischende Wirklichkeit. Beladen mit Klischees und bestätigten Vorurteilen liefern viele Reportagen nunmehr ein Zerrbild der Realität, wie etwa „Klitschkos gefährlichste Runde“ zeigt. Selbst im Wahlkampf um das Bürgermeisteramt in Kiew spielt der Autor die Karte des in Deutschland ungemein populären Ukrainers aus, obwohl dieser zur jenen Zeit in der Ukraine als Politiker eher bedeutungslos ist.
Verfechter einer der Realität verpflichteten Reportage bangen um die Reputation des langbewährten Genres. Seriöse Recherchearbeit, akribisches Feilen an Inhalt und Ausdruck weicht oftmals glatt geschliffenem, dramaturgisch aufgeladenem und von Chefredakteuren protegiertem Storytelling. Zugleich wirft dieser Kurswechsel eine alte generelle Frage neu auf: Lässt sich Realität jemals 1:1 abbilden? Oder setzt sich Wirklichkeit nicht vielmehr aus dem Versuch einer objektiven Wiedergabe und einer subjektiven Beschau zusammen – und spricht damit dem literarischen Journalismus das Wort?
Trophäen-Hype und Fließband-Produktionen
Verstärkt wird der Tatsachen unterwandernde Trend durch den jähen Richtungswechsel eines ehedem in guter, wohlmeinender Absicht gegründeten qualitativen „Antriebsmotors“ der Reportage: Um das Prestige des Erzähljournalismus zu heben, loben Verlage und Interessenverbände seit den 1970er Jahren eine Reihe von Ehrungen und Auszeichnungen aus – ergänzend zum bereits 1962 ins Leben gerufenen Theodor-Wolff-Preis der deutschen Zeitungen. Exaktes Beobachten und sprachliche Präzision gelten bei den Juroren als Maß aller Dinge. Größte Bedeutung erlangt der 1977 vom „Stern“ eingeführte Egon-Erwin-Kisch-Preis (ab 2005 Kategorie Reportage des Nannen-Preises) mit drei Preisträgern pro Jahr für deutschsprachige Reportagen.
„Heldengeschichten“: Fakten ordnen sich Dramaturgie unter
Analog zum popjournalistischen Mainstream jedoch mutieren in der Folge die Bewertungsparameter der eingereichten Arbeiten: Stil, Form und Dramaturgie gewinnen gegenüber dem Inhalt allmählich die Oberhand. Unweigerlich gleichen die prämierten Texte sich in ihrer Machart. Gelockt durch einen szenischen Einstieg erwartet die Leser eine aufregende, wenn nicht „grandiose“ Story mit einprägsamen, möglichst ausgefallenen Protagonisten – und einer oftmals bedeutungsschweren Botschaft.
Als gäbe es der Schreibanreize nicht genug, hebt der im Jahre 2007 gegründete Verein „Reporter-Forum“ nach zwei Jahren eine mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis konkurrierende Trophäe aus der Taufe: den „Deutschen Reporterpreis, der Preis von Journalisten für Journalisten“. Der mit vier Auszeichnungen bis heute erfolgreichste Preisträger heißt Claas Relotius.
Kostproben im Wortlaut
„Ein Schrempp in Bestform ist ein kleines Ereignis. Er ist laut, angriffslustig, ist Boxer, Bulle, Cowboy, alles gleichzeitig und im Wechsel. Seine Schultern schwingen, links, rechts, links, als wolle er die Fragen abfedern, seine Daumen sind im Gürtel eingehakt, sein Schädel stößt weit über den Tisch vor. Er lacht, er grinst, er hat so viel Spaß, Jürgen E. Schrempp zu sein, Chef von Europas größtem Konzern.“
aus „Die Drei-Welten-AG“ von Dietmar Hawranek und Dirk Kurbjuweit
“ … kein spektakulärer Fall, aber auch nicht so läppisch, dass einer wie er dankend ablehnen müsste. Einer für die ganz großen Einsätze. Einer, der kam, als die Vulkan-Werft brannte, Klöckner und Interflug. Jobst Wellensiek, der Schatzmeister der Zahlungsunfähigen, der Spezialist für Letzte Hilfe, Deutschlands prominentester Notarzt todkranker Unternehmen.“
aus „Der Herr der Pleiten“ von Stefan Willeke
„Meier erzählte der Bewohnerin, dass sie die nächsten Wochen mit ihrem Mann im Urlaub auf Mallorca sein werde. »Mallorca… , Frau Meier!«, rief die alte Dame entzückt. »Das würde ich so gerne noch einmal sehen, bevor ich sterbe.« Zehn Jahre ist das her. Zehnmal war sie seitdem mit ihren Heimbewohnern im Nordosten der Insel, in Can Picafort. Trotz Pflegestufe, trotz Demenz, Inkontinenz und schwieriger Vergangenheit. Oder gerade deswegen.“
aus „Eine Reise ins Licht“ von Ulrike Schuster
Nachlesen im Netz
Weitere Netzquellen
- > „Henri-Nannen_Preis für Rene Pfister aberkannt“ (2011) > (Quelle: pr-journal.de)