Einzigartig: Die Entdeckung des Individuums
Die Renaissance gilt kunstgeschichtlich als Geburtsstunde des „menschlichen“ Porträts: In dieser bedeuetenden europäischen Kulturepoche tritt das Interesse an der Darstellung der unvollkommenen, wahrhaftigen und damit unvergleichlichen Person ans Licht: Anstatt zu idealisieren, schärfen vor allem die Kunstschaffenden den Blick für die innere und äußere Gestaltung, verbinden Wesen und Charakter mit der äußeren Erscheinung des Individuums, lassen Physiognomie und Habitus hervorscheinen. Porträts meist prominenter Zeitgenossen gelten als Ausdruck von Individualität, die abgebildeten Personen sind wiedererkennbar, sogar ihre Gemütsbewegungen lassen sich mitunter ablesen. Menschen zeigen, wie sie wirklich sind: Die Maler der Renaissance nehmen die spätere Kernaufgabe des schriftlichen Porträts vorweg.
Mann mit rotem Turban (vermutlich Selbstporträt)
von Jan van Eyck (1433)
Selbstbildnis
von Albrecht Dürer (um 1500)
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
von Johannes Vermeer (um 1665)
Denn diese nehmen sich – von einigen Biografien abgesehen – über lange Zeit rar aus. Noch im 19. Jahrhundert herrschen in aller Regel biografische Überblicke vor, ehe sich mit dem anrückenden 20. Jahrhunderts das Porträt allmählich als eigenständisches journalistisches Format in den Printmedien herauskristallisiert.
Nachlesen im Netz
Weitere Netzquellen
- > „Die klassische Kunst“ (Eine Einführung in die italienische Renaissance / 4. Auflage 1908) > von Heinrich Wölfflin (Quelle: projekt-gutenberg.de)
… Und nun geht das Interesse nicht nur auf den Charakterkopf, sondern es wird auch die ganze Fülle individueller Haltung und Bewegung heraufgehoben in das Reich des Darstellungswürdigen, man geht ein auf den Willen und die Launen jedes besonderen Stoffes und freut sich an der eigensinnigen Linie. Die alten Schönheitsformeln schienen der Natur Gewalt anzuthun, die geschwungene Haltung, das reiche Undulieren der Draperie werden als blosse schöne Phrasen empfunden, deren man müde geworden ist. Ein mächtiges Wirklichkeitsbedürfnis will sich befriedigen, und wenn irgend etwas den reinen Glauben an den Wert der neu erfassten Sichtbarkeit beweist, so ist es der Umstand, dass selbst die Himmlischen erst glaubhaft erscheinen im irdischen Gewand, mit individuellen Zügen und ohne eine Spur von Idealität in der Präsentation. …
aus: „Die klassische Kunst“ von Heinrich Wölfflin (4. Aufl. 1908)